Newsletter 01/2025 – Gravierende Defizite in der Rechts­schutz­funktion der D&O

Derzeit bestehen gravierende Defizite in der Rechtsschutzfunktion der D&O.

1. Leistungsverweigerung ohne Feststellung einer wissentlichen Pflichtverletzung

Obwohl in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen heute durchgängig geregelt ist, dass der Versicherer erst nach rechtskräftiger Feststellung einer wissentlichen Pflichtverletzung der versicherten Person leistungsfrei ist, wird eine Übernahme der Rechtsverteidigungskosten nach wie vor in Einzelfällen mit der Behauptung, der Versicherer sei bei Abschluss oder Prolongation getäuscht worden, da die versicherte Person zu diesem Zeitpunkt bereits wissentlich ihre Pflichten verletzt habe, verweigert.

Zuletzt ist dies beispielsweise im Falle Wirecard praktiziert worden. Betroffen war ein Kreis von etwa zwanzig versicherten Personen, gegen die staatsanwaltschaftliche Ermittlungs- und Zivilverfahren eingeleitet waren.

Die Versicherungsbedingungen sahen vor, dass der Versicherer zwar darauf verzichtet, etwaige Anfechtungs- oder Rücktrittsrechte wegen einer arglistigen Täuschung bei Vertragsschluss oder -verlängerung auszuüben. Stattdessen soll eine arglistige Täuschung bei Vertragsschluss oder -verlängerung oder eine Anzeigepflichtverletzung nur zulasten derjenigen versicherten Person gehen, die die Täuschung bzw. Anzeigepflichtverletzung begangen hat, und zum Ausschluss dieser Person aus dem Versicherungsschutz führen.
Darüber hinaus sollten Haftpflichtfälle vom Versicherungsschutz ausgenommen sein, die auf einer wissentlichen Pflichtverletzung der in Anspruch genommenen versicherten Person beruhen. Der Versicherer trägt hierfür die Darlegungs- und Beweislast. Bei Zweifeln über das Vorliegen einer wissentlichen Pflichtverletzung verspricht der Versicherer vorläufig Abwehrkosten zu übernehmen bis zur rechtskräftigen Feststellung einer wissentlichen Pflichtverletzung.
Es ist aber keinesfalls sicher, dass sich der Versicherer an seine Zusagen hält.

Die versicherte Person, die im Regelfall bereits wegen laufender staatsanwaltschaftlicher Ermittlungs- und/oder Zivilverfahren auf anwaltliche Verteidigungsleistungen konkret angewiesen ist, wird in diesen Fällen gezwungen, parallel den Rechtsweg gegen den Versicherer zu beschreiten. Da ein der versicherten Person günstiges Deckungsurteil regelmäßig erst nach mehrjähriger Prozessdauer zu erwarten ist, ist die versicherte Person darauf verwiesen, ihre Rechtsverteidigungskosten in den Ermittlungs- und/oder Zivilverfahren sowie in dem Deckungsrechtsstreit mit dem Versicherer bis dahin selbst zu tragen. Zwar sind im Markt sog. Deckungsschutzpolicen verfügbar, die der versicherten Person ggf. die Kosten des Deckungsrechtsstreits abnehmen. Damit wird aber das Deckungsdefizit nicht beseitigt. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung in dem Deckungsrechtsstreit gegen den Versicherer bleibt die versicherte Person auf die Übernahme ihrer Rechtsverteidigungskosten in den Ermittlungs- und/oder Zivilverfahren verwiesen.

Soweit die versicherte Person finanziell zur Übernahme ihrer Verteidigungskosten nicht in der Lage ist, ist die Beantragung einer Leistungsverfügung in Betracht zu ziehen. In einem Beschluss vom 11.12.2020 (Az.: 7 W 29/20) bzw. in einem Urteil vom 07.07.2021 (Az.: 7 U 19/21) hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hierzu unter anderem Folgendes festgestellt: Der Erlass einer auf die Befriedigung von Versicherungsansprüchen gerichteten Leistungsverfügung könne nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass die (angeblich) durch die versicherte Person begangene wissentliche Pflichtverletzung gleichzeitig eine arglistige Täuschung gegenüber dem Versicherer darstelle. In Fällen, in denen der Versicherer in den Versicherungsbedingungen vorläufige Abwehrkosten im Zweifel über das Vorliegen einer wissentlichen oder vorsätzlichen Pflichtverletzung seitens der versicherten Person zugesagt und auf deren Rückforderung selbst im Falle der nachträglichen gerichtlichen Feststellung einer solchen Pflichtverletzung verzichtet habe, stünde der versicherten Person ein vorläufiger Rechtsschutzanspruch und damit ein Verfügungsanspruch i.S.v. § 935 ZPO zu.

Auch ein Verfügungsgrund lag nach Auffassung des OLG Frankfurt vor: Ein Begehren, das auf vollständige Befriedigung der behaupteten Ansprüche abzielt, könne ausnahmsweise im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung geltend gemacht werden, wenn die versicherte Person auf die sofortige Erfüllung zur Abwendung einer existentiellen Notlage dringend angewiesen sei und sie im Hauptsacheverfahren mit hoher bis an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit obsiegen werde. Zudem dürfe ihr wegen der unvermeidlichen zeitlichen Verzögerung die Erwirkung eines Titels im ordentlichen Verfahren nicht zumutbar sein und ihr müssten aus der Nichtleistung schwerwiegende Nachteile drohen, die nicht außer Verhältnis stehen zu dem Schaden, den der Versicherer erleiden könne.

Eine solche existenzielle Notlage sei beispielsweise zu bejahen, wenn der Antragsteller sich zahlreichen zivil- und strafrechtlicher Inanspruchnahmen ausgesetzt sehe, sein gesamtes Vermögen aufgrund dieser Verfahren verarretiert sei und er aufgrund seiner Inhaftierung seine berufliche und wirtschaftliche Existenzgrundlage verloren habe. Ihm stünden dann die zur Finanzierung seiner Verteidigung gegen die Haftpflicht- und Arrestansprüche dringend erforderlichen Mittel nicht zur Verfügung. Dem stehe auch nicht die Möglichkeit der Inanspruchnahme von staatlicher Prozesskostenhilfe entgegen. Der Versicherer habe mit dem Abschluss der D&O-Versicherung ein weitreichendes Leistungsversprechen gegeben, von dem er sich nicht mit dem Verweis auf Prozesskostenhilfe lösen könne. Diese entspreche nicht dem geschuldeten Versicherungsschutz, der die Vergütung eines Anwalts auf Grundlage einer Honorarvereinbarung und nicht auf RVG-Basis vorsieht. Sollte sich die versicherte Person nicht effektiv verteidigen können, laufe sie Gefahr, ihre gesamte wirtschaftliche Existenzgrundlage zu verlieren. Sie könne deswegen auch nicht auf die theoretische Möglichkeit verwiesen werden, nach jahrelanger Prozessführung ggf. Schadensersatzansprüche geltend machen zu können. Genau vor solchen Risiken sollte sie durch die abgeschlossene D&O-Police geschützt werden.

2. Leistungseinstellung trotz Zusage der Übernahme der Rechtsverteidigungskosten

Auch eine Zusage des Versicherers, die Rechtsverteidigungskosten der versicherten Person zu übernehmen, bietet häufig keine Gewähr dafür, dass der Versicherer die Rechtsverteidigungskosten tatsächlich bis zum Abschluss etwaiger Straf- und/oder Zivilverfahren erstattet.

Nach den Allgemeinen Versicherungsbedingungen werden von dem Versicherer geleistete Rechtsverteidigungskosten auf die Versicherungssumme angerechnet (sog. Anrechnungsklausel). Da bei größeren Finanzdienstleistern und Gesellschaften kein Versicherer zur Übernahme des Gesamtrisikos bereit ist, bestehen häufig sog. Versicherungstürme, die aus einem Grundversicherer und einer Reihe sich daran anschließender Exzedenten bestehen. Die Grundversicherer bieten regelmäßig eine Deckung zwischen 15 und 25 Mio. Euro.

In umfangreicheren Haftungsfällen, von denen häufig zahlreiche versicherte Personen betroffen sind, entstehen durch die Beteiligung vieler Versicherer empfindliche Deckungslücken. Die Anrechnung der Verteidigungsleistungen kalibriert die Deckungssumme. Die Deckungssumme des Grundversicherers kann – wie im Falle Wirecard – dabei sogar während des Laufs von Straf- und/oder Zivilverfahren erschöpft sein. Da der einzelnen versicherten Person unbekannt ist, gegenüber welchen anderen versicherten Personen der Versicherer in welchem Umfang bereits Deckungsleistungen erbracht hat, kann die versicherte Person noch während des Laufs von Straf- und/oder Zivilverfahren von der Leistungseinstellung des Versicherers überrascht werden.

Darauf, dass dann die Exzedenten-Versicherer Deckungsschutz gewähren würden, kann sich die versicherte Person – wie der Fall Wirecard ebenfalls ansehnlich gezeigt hat – keinesfalls vertrauen.
Die Frage, ob die Anrechnungsklausel wirksam ist, ist in der Literatur umstritten und höchstrichterlich nicht geklärt. Das OLG Frankfurt am Main hat hierzu in einer Entscheidung vom 29.11.2024 (Az. 7 U 82/22) ausgeführt, dass derartige Klauseln einer Inhaltskontrolle standhielten und die versicherten Personen auch im Übrigen nicht schutzwürdig seien.
Das Unvermögen versicherter Personen, den aktuellen Stand der noch zur Verfügung stehenden Deckungssumme einschätzen zu können, störte das OLG nicht. Jedenfalls die Nachteile einer Anrechnungsklausel – die Schmälerung der Deckungssumme durch Abwehrkosten bis hin zu ihrer vollständigen Erschöpfung mit entsprechenden Folgen für einen etwaigen Freistellungsanspruch – träten in den Versicherungsbedingungen für versicherte Personen klar zutage. Die Anrechnungsklausel sei deshalb nicht intransparent.

Ebenso wenig gefährde eine Anrechnungsklausel den Vertragszweck. Der einheitliche Versicherungsanspruch der Versicherten umfasse als gleichrangige Hauptpflichten sowohl Rechtsschutz als auch Freistellung, und zwar zeitlich regelmäßig sukzessiv. Eine Kostenanrechnung aufgrund von Rechtsschutz schränke also allenfalls den Freistellungsanspruch ein. Um eine ausreichend hohe Deckungssumme für Rechtsschutz und Freistellung müsse sich eben der Versicherungsnehmer kümmern.

Schließlich weiche eine Anrechnungsklausel angesichts der für die D&O typische Gemengelage aus hohen, unvorhersehbaren Abwehrkosten, komplexen Haftungsfragen und einem größeren Kreis versicherter Personen auch nicht von einem gesetzlichen Leitbild – nach dem ein Versicherer Verteidigungskosten auch insoweit zu ersetzen hat, als sie die Versicherungssumme übersteigen (§ 101 Abs. 2 S. 1 VVG) – ab.

Die Ausführungen zur Rechtsmissbräuchlichkeit des Erfüllungseinwands des Grundversicherers drangen beim OLG ebenfalls nicht durch: Die vor Erschöpfung der Grundversicherungssumme erteilten Deckungszusagen hätten stets auf die Konsequenzen der Kostenanrechnung verwiesen und deshalb kein schutzwürdiges Vertrauen in eine über die Erschöpfung der Versicherungssumme hinausgehende Kostenübernahme geschaffen – selbst bei Qualifikation der Deckungszusagen als deklaratorisches Schuldanerkenntnis. Das OLG Frankfurt entschied darüber hinaus noch, dass die vom Grundversicherer nach dem Prioritätsprinzip – nach zeitlicher Abfolge der Rechnungseingänge – vorgenommene Verteilung der Deckungssumme unter den versicherten Personen zulässig sei. Die mögliche Ungleichbehandlung der zeitlich später Versicherungsschutz suchenden versicherten Personen sei diesem System immanent und für alle Beteiligten erkennbar, ihr Eintritt zudem für alle versicherten Personen gleich wahrscheinlich.

Das Urteil führt die Tücken derzeit marktüblicher D&O-Versicherungen für die versicherten Personen drastisch vor Augen: Je komplexer der Versicherungsfall und je größer der Kreis an versicherten Personen, desto eher sind diese gezwungen, in Zivil- und Strafverfahren auf Sicht zu fahren. Denn Konsequenz der Anrechnungsklauseln und des Prioritätsprinzips ist ja nicht nur, dass nach erfolgloser Anspruchsabwehr eine Freistellung von Schadensersatzansprüchen wegen Erschöpfung der Versicherungssumme nicht mehr möglich ist. Vielmehr sorgt der im Versicherungsfall kontinuierlich sinkende Pegelstand der Versicherungssumme dafür, dass die gleichzeitig darauf zugreifenden versicherten Personen in noch laufenden Straf- und Zivilverfahren mit vollständiger Erschöpfung konfrontiert sein können. Diese plötzliche Erschöpfung kann ein laufendes Verfahren weitgehend zum Stillstand bringen, welches womöglich gar erst auf die ermutigenden Signale bzw. Deckungszusagen des Versicherers hin begonnen worden war. Auch kann es die Verteidigungsfähigkeit erst zu einem späteren Zeitpunkt in Anspruch genommener versicherter Personen bereits im Keim ersticken, weil für sie keine Mittel mehr zur Verfügung stehen.

Die Anrechnungsklausel ist auch keinesfalls so transparent, wie das Gericht meint: Insbesondere die Gefahr, dass die Versicherungssumme bereits vor der erstmaligen Inanspruchnahme des Grundversicherers durch eine versicherte Person infolge des Prioritätsprinzips – und damit dem Zugriff anderer versicherter Personen – vollständig ausgeschöpft ist, tritt nicht deutlich zutage. Überhaupt wird das Prioritätsprinzip weder in den Bedingungen der Versicherer erwähnt, noch existierte im Frankfurter Verfahren eine entsprechende vertragliche Regelung. Das OLG Frankfurt kann auch weder auf eine gefestigte Vertragspraxis zugunsten des Prioritätsprinzips noch eine herrschende Meinung in Rechtsprechung oder Wissenschaft verweisen.
Gegen das Urteil des OLG ist Revision zum BGH eingelegt. Möglicherweise wird der BGH hier für Klarheit sorgen.

3. Fazit

Versicherungsnehmern ist zu empfehlen, diese Defizite bei Abschluss und/oder Prolongation der D&O-Versicherung im Verhandlungsweg auszuräumen. Dass tatsächlich zeitnah nach Einleitung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen oder zivilrechtlicher Inanspruchnahmen Rechtsverteidigungskosten übernommen werden, könnte beispielsweise dadurch sichergestellt werden, dass der Versicherer die Verpflichtung übernimmt, auf erstes Anfordern zu leisten, also ohne vorherige Prüfung, ob die Voraussetzungen für seine Leistungspflicht erfüllt sind. Ebenso könnte vereinbart werden, dass Rechtsverteidigungsleistungen bis zu der Höhe der Verteidigungssumme erbracht werden, aber nicht auf diese angerechnet werden, und dass jede versicherte Person Rechtsverteidigungskosten bis zu einem bestimmten Mindestbetrag erhält.

Versicherten Personen ist einstweilen der Abschluss individueller Straf- und Zivilrechtsschutz-Versicherungen mit der persönlichen Gefährdungslage adäquaten Höchstsummen zu empfehlen.